Kollektivvertrag 2.0

Am 13.01.2011 früh morgens wurden die Verhandlungen um den größten Kollektivvertrag im Gesundheits- und Sozialbereich abgeschlossen. Die Lohnerhöhung von 2% bei den Kollektivvertragslöhnen liegt im Durchschnitt der heurigen Kollektivvertragsrunden. Bei der Anrechnung von Vordienstzeiten konnten ebenso Verbesserungen erzielt werden wie bei der Anrechnung der Hospizkarenz. Auch die eingetragene PartnerInnenschaft ist jetzt in diesem Kollektivvertrag der Ehe gleichgestellt. Eigentlich Selbstverständlichkeiten.
Bei den eigentlichen heißen Eisen ist aber nix passiert. Die Bezahlung nach BAGS-Kollektivvertrag wird weiterhin bei weitem nicht der Verantwortung der in unserer Branche arbeitenden KollegInnen entsprechen. Und die aus vielen Gründen erforderliche Arbeitszeitverkürzung wurde noch nicht einmal angegangen.
In den letzten Jahren ist es in einer der für den BAGS-Kollektivvertrag zuständigen Gewerkschaften – der GPA-djp – Mode geworden, sich intensiv mit dem sog. web 2.0 (Facebook, ...) auseinanderzusetzen. Was wir Beschäftigten aber wirklich bräuchten ist ein Kollektivvertrag 2.0. Ein Kollektivvertrag, der unserer Leistung gerecht wird. Ein Kollektivvertrag, der Arbeitszeiten hat, die mensch im Sozialbereich auch ohne Gesundheitsgefährdung aushält (30 Stunden sind bei weitem genug!). Und v.a. ein Kollektivvertrag, der den großkotzigen Ankündigungen von Politik und Gewerkschaftsspitze von der "Zukunftsbranche Sozialbereich" gerecht wird.
Eine Zukunftsbranche nämlich hätte auch zukunftsweisende Arbeitsbedingungen. Was wir bei unserem Kollektivvertrag tatsächlich erleben, ist, dass wir eine Retrobranche sind – Arbeitsbedingungen nämlich, die weit unter dem österreichischen Durchschnitt liegen und der heutigen Zeit um Jahrzehnte hinterherhinken. So kann es nicht weitergehen! Die Verantwortlichen müssen sich einmal überlegen, ob nicht vielleicht erkämpfte höhere Kollektivvertragsabschlüsse viel eher dazu beitragen, dass der enorm geringe Anteil von Gewerkschaftsmitgliedern in unserer Branche erhöht werden kann, als ein gutes Klima mit Politik und Geschäftsführungen.
Ich bin zutiefst davon überzeugt. Die KollegInnen in den Betrieben, zu denen ich Kontakt habe, reagieren immer sehr positiv auf gewerkschaftliche Aktionen. Und wenn die zuständigen BetriebsrätInnen auch in anderen Betrieben deren Notwendigkeit erklären würden, statt sich ins Hemd zu machen, dann könnte unsere Branche zur Vorreiterin bei einer neuen gewerkschaftlichen Kultur von Demokratie und Aktionismus werden, was positive Auswirkungen auf die gesamte österreichische Gewerkschaftsbewegung hätte.
Interessant ist nämlich, dass genau die VertreterInnen im Verhandlungsteam, wo es eine solche Kultur bereits (ansatzweise) gibt, gegen den Abschluss gestimmt haben – die Pro-Stimmen kommen aus den Betrieben, wo zumeist nicht mit der Belegschaft, sondern für diese agiert wird, und dadurch sind BetriebsrätInnen immer viel leichter unter Druck zu setzen. Die ca. 25% Nein-Stimmen sind bei Kollektivvertragsverhandlungen mehr als außergewöhnlich. Auch hier sollte sich die Gewerkschaftsspitze einmal überlegen, ob sie nicht schön langsam endgültig den Kontakt zu wesentlichen Teilen der Beschäftigten verliert.
Langfristig ist es für uns Lohnabhängige und die Gewerkschaftsbewegung weniger wichtig, ob wir mit 0,1% mehr oder weniger abschließen (auch wenn wir alle im Sozialbereich uns 20% mehr verdient haben!), sondern ob es uns gelingt, jene KollegInnen von der Notwendigkeit des kollektiven Zusammenschlusses zu überzeugen, die das heute noch nicht sind. Und das geht nur durch eine Demokratisierung unserer Strukturen (Stichwort: Urabstimmungen über Verhandlungsergebnisse – da hätte es heuer wohl kaum eine Mehrheit für die 2% gegeben) und dadurch, dass wir BetriebsrätInnen den Kollektivvertrag gemeinsam mit den Beschäftigten erstreiten – im Betrieb und auf der Straße, wenn die Bosse nicht im Verhandlungszimmer das rausrücken, was zur Absicherung unserer Arbeits- und Lebensbedingungen erforderlich ist!

Axel Magnus, Betriebsratsvorsitzender SDW