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Filmbesprechung: „Sicko“ von Michael Moore

Der neue Film von Michael Moore heißt „Sicko“ und bietet eine scharfe Kritik am US-amerikanischen Gesundheitssystem. Seit 12. Oktober läuft „Sicko“ auch in österreichischen Kinos.
Ausgestattet mit Nadel und Faden vernäht Rick, ein junger Arbeitsloser, eine lange und tiefe Wunde, die über sein Knie verläuft: „Ich habe nicht genügend Geld, um eine richtige Behandlung zu bezahlen.“ Die nächste Aufnahme zeigt Adam, ein Mann in den Sechzigern, über seine Kreissäge gebeugt, durch die er gerade zwei Finger verloren hat. Ein gewöhnlicher Haushaltsunfall, wie er sich oft ereignet. Doch als Adam mit seinen beiden Fingerkuppen in der Tasche im Krankenhaus angekommen ist, werden ihm die Tarife offenbart: 12.000 Dollar für das Wiederannähen des Ringfingers, 60.000 für das des Mittelfingers. Adam kann nur den Eingriff für 12.000 Dollar bezahlen.
In welchem Dritte-Welt-Land wurden diese Bilder aufgenommen? In den Vereinigten Staaten von Amerika, der Weltwirtschaftsmacht Nummer eins. Wir haben alle davon gehört, dass das amerikanische Gesundheitssystem von großen Ungleichheiten geprägt ist, aber durch „Sicko“, Michael Moores neuesten Film, wird das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar. Dieser Film ist ein mächtiges Plädoyer gegen ein Gesundheitssystem, das von privaten Versicherungen zernagt wird, die nur um ihre Gewinnspanne besorgt sind.
Wie Adam und Rick haben 50 Millionen US-AmerikanerInnen keine Sozialversicherung. Schätzungen zufolge sterben jährlich 18.000 von ihnen daran. „Doch das ist nicht das Thema des Films“, erklärt Michael Moore. Das Thema des Films ist die Hölle, der all jene zahlreichen US-AmerikanerInnen ausgesetzt sind, die zu dem Zeitpunkt, an dem sie unglücklicherweise krank werden, eine Krankenversicherung haben. Denn die Tatsache, eine solche Versicherung abgeschlossen zu haben, ist keine Garantie dafür, dass eine notwendige ärztliche Behandlung tatsächlich bezahlt wird. Die privaten Krankenversicherungen haben kein Interesse daran, ihren KlientInnen die Kosten für ihre Behandlung rückzuerstatten: was zählt, ist der Profit. Eine Rückerstattung ist ein „Verlust“, deren Verweigerung ein „Gewinn“: so drückt man es in den hohen Sphären dieser Unternehmen aus, die auf die Gesundheit von Millionen amerikanischer ArbeiterInnen spekulieren.
Getreu seiner Methode sammelt Michael Moore eine Serie herzzerreißender Schicksale, die gemeinsam eine einzige Anprangerung bilden. So schildert beispielsweise eine Mutter, wie ihr Kind, von einem plötzlichen Unwohlsein befallen, starb, weil ihre Krankenversicherung eine Behandlung in der nächstgelegenen Notaufnahme ablehnte. Wäre das Kind in dieses Krankenhaus gebracht worden, hätten es die Ärzte noch retten können. Aber die telephonischen Anweisungen der Versicherung waren eindeutig: Wir werden die Behandlung nicht bezahlen, wenn sie hier vorgenommen wird. (...) Elcérée, die Mutter des kranken Kindes, protestierte, beharrte, ließ nicht locker. Aber es war nichts zu machen. Auf dem Weg in das „richtige“ Krankenhaus verstarb das Kind.
„Sicko“ schildert mehrere dramatische Geschichten derselben Art, oftmals sehr bewegend. Der Tod ist dabei nicht die einzige Option: die Glücklichsten kommen mit enormen Schulden und nicht selten auch mit unerträglichen psychischen und physischen Leiden davon. In dem Maße, in dem der Film diese ruinierten Leben mit dem Altar des Profits in Zusammenhang bringt, versteht man, dass es sich hierbei nicht um „Einzelfälle“ oder Ausnahmen handelt, sondern dass diese wiederkehrenden Tragödien die unvermeidliche Konsequenz eines regelrechten Systems darstellen.
Moore zeigt auch, wer von diesem System profitiert: die Bosse der Industrie und des Gesundheitssektors sowie die PolitikerInnen, die in ihrem Dienst stehen (in jedem Sinne des Wortes). Rekordgewinne, Korruption, Doppelmoral: Moore schiebt all das in Form von Archivaufnahmen zwischen die verschiedenen Zeugenberichte. Der Kontrast zwischen dieser Kaste zynischer MillionärInnen, die sich das Recht herausnimmt, über Leben und Tod zu entscheiden auf der einen Seite und diesen würdigen, mutigen, aber armen Familien, die ihr Drama erzählen auf der anderen Seite ist schmerzlich. Im Vorübergehen diskreditiert Moore – schon seit langem ein Dorn im Auge von Bush und den RepublikanerInnen – auch die DemokratInnen, allen voran Hillary Clinton, deren Bestechlichkeit und völlige Unterordnung unter die Interessen der herrschenden Klasse Amerikas er demaskiert.
Die eindrucksvollsten Berichte sind jedoch vermutlich diejenigen der ehemaligen Angestellten der privaten Krankenversicherungen, die zurückgetreten sind, um sich nicht länger als KomplizInnen zu fühlen. Eine ehemalige Sekretärin erzählt unter Tränen, dass ein Blick ausreichte, um zu wissen, ob ein Ansuchen von ihren Chefs abgewiesen werden würde. Denn vor Abschluss einer Versicherung muss man der inneren Logik dieser privaten Unternehmen zustimmen: die Versicherung wird nicht das Risiko eingehen, Personen zu versichern, deren medizinische Vergangenheit die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit einer Krankheit erhöht! Dies ist die vollendete Absurdität der Angelegenheit. Aber wie Shakespeare sagte, „dieser Wahnsinn hat Methode“. Ein Arzt, der eine dieser Versicherungen verlassen hat, erklärt, dass seine Arbeit darin bestand, Mängel in den Akten der Versicherten aufzustöbern, um das Unternehmen davor zu bewahren, für die Kosten der ärztlichen Behandlungen aufkommen zu müssen. Ein anderer erzählt, dass sein Gehalt jedes Mal großzügig erhöht wurde, wenn es ihm gelang, die Anzahl der Rückerstattungen zu reduzieren. Umso schwerer die Krankheit ist, umso teurer wird ihre Behandlung und umso wichtiger ist die Streitfrage der Finanzierung für das Unternehmen. Auf diese Weise gerät die Jagd nach Profit in direkten Konflikt mit dem Gesundheitswesen.
Mit dieser Erkenntnis begibt sich Michael Moore auf eine Rundreise durch Kanada, Großbritannien und Frankreich, wo er mit der Bevölkerung, mit Ärzten und anderen Spitalsangestellten diskutiert. Sein Ziel ist es dabei, einen auffallenden Kontrast zwischen den Gesundheitssystemen dieser Länder und dem der USA zu produzieren. Doch die französischen, kanadischen und britischen ArbeiterInnen werden seinen Enthusiasmus für ihre jeweiligen Gesundheitssysteme – die, nebenbei bemerkt, unaufhörlich von den herrschenden Klassen angegriffen werden – nicht teilen. Aber Moore hält sich nicht mit Einzelheiten auf, und das Spiel mit den Kontrasten gibt ihm die Möglichkeit, seinen exzellenten Humor zu entfalten. Zum Abschluss bringt er eine Gruppe kranker AmerikanerInnen nach Kuba, wo ihnen unendgeldlich die qualitativ hochwertige Behandlung angeboten wird, die ihnen in den USA versagt wurde.
Dieser Film hat jenseits des Atlantiks enorme Auswirkungen gehabt. Als er in einem Theater in Texas – der Hochburg der RepublikanerInnen – gespielt wurde, waren die ZuschauerInnen so bewegt, dass sie auf die Initiative und das Drängen eines Afroamerikaners hin beschlossen, Versammlungen zu diesem Thema abzuhalten. „Wir müssen die Dinge selbst in die Hand nehmen.“ Die selbe Szene spielt sich im ganzen Land ab. Dies ist ein Symptom für die enorme Aufbruchstimmung in der US-amerikanischen Gesellschaft. Der Missmut der Bevölkerung ist greifbar. Alle Elemente einer ernsten sozialen Krise entwickeln sich derzeit in den Vereinigten Staaten.
Angesichts der Pläne der Bürgerlichen, die Sozialversicherung auszuhöhlen und den Gesundheitssektor noch weiter für die privaten Versicherungen zu öffnen, ist dieser Film auch für das österreichische Publikum von großem Interesse. Nehmen wir diesen Film zum Anlass und kämpfen wir auch in Österreich für den Erhalt und die Verbesserung des öffentlichen Gesundheitssystems.